1850 Die Kurhessen-Krise: Nachwehen der Revolution

In der Praxis funktionierte das in der Kurhessischen Verfassung von 1831 Niedergelegte nur begrenzt. Die Verfassung traf in Friedrich Wilhelm (Prinzregent von 1831–1847, dann Kurfürst) auf einen extrem rückwärtsgewandten, uneinsichtigen und politisch unfähigen Landesherren. Dieser versuchte sofort alles, um die Verfassung auszuhebeln. Das spiegelt sich in einer entsprechenden Personalpolitik, wie etwa der Berufung des ultra-konservativen Ludwig Hassenpflug zum leitenden Minister, der die anti-konstitutionelle Politik anleitete, wider. Er überstand vier Ministeranklagen des Landtags. Dies belegte im Nachhinein die Unbrauchbarkeit der Ministeranklage als Instrument, die Regierung zu kontrollieren. Der Landtag wurde nun durch den Kurfürsten immer aufgelöst, wenn Beschlüsse drohten, die unangenehm waren. Auch wurde die Zusammensetzung des Landtages bei Neuwahlen manipuliert. So überstand er zwar die Revolutionswirren, schlitterte durch sein politisches Unvermögen jedoch sofort nach der Niederringung der demokratischen Bewegungen in Deutschland, in einen gefährlichen Konflikt. Denn Kurfürst Friedrich Wilhelm schreckte auch nicht vor Rechtsbruch zurück, was zum Kurhessischen Verfassungskonflikt führte.

1850 standen sich Kurfürst Friedrich Wilhelm und sein erster Minister, Ludwig Hassenpflug, die die Verfassung aushebeln wollten, und das Bürgertum, das dies verhindern wollte, in einer Patt-Situation gegenüber.
Die Kurhessische Verfassung von 1831 bestimmte in §143, dass Steuern nur mit landständischer Bewilligung erhoben werden durften. Die vom Bürgertum beherrschte Ständeversammlung weigerte sich, den von der Regierung vorgelegten Staatshaushalt zu bewilligen. Daraufhin erließ Kurfürst Friedrich Wilhelm I. entgegen dem eindeutigen Wortlaut der Verfassung eine Steuer-Notverordnung, um weiterhin Steuern erheben zu können. Die von Bürgerlichen beherrschte Verwaltung und Justiz betrachteten entsprechende landesherrliche Erlasse als verfassungswidrig und setzten sie nicht um. Das höchste Gericht des Landes, das Oberappellationsgericht in Kassel, nahm – damals keine Selbstverständlichkeit – das richterliche Prüfungsrecht für sich in Anspruch und erklärte die Steuer-Notverordnung ebenfalls für verfassungswidrig und nichtig.

Der Kurfürst verhängte daraufhin das Kriegsrecht. Auch das zeigte kaum Wirkung. Daraufhin verschärfte der Kurfürst mit einer landesherrlichen Verordnung vom 28. September 1850, gestützt auf einen Beschluss des Deutschen Bundes, das Kriegsrecht, sprach insbesondere den Gerichten die Zuständigkeit ab, landesherrliche Erlasse auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Diese hielten sich aber nicht daran: am 3. Oktober 1850 erklärte das Oberappellationsgericht Kassel auch die landesherrliche Verordnung vom 28. September 1850 für verfassungswidrig.
Der militärische Oberbefehlshaber der kurhessischen Armee, Generalleutnant Carl von Haynau, ein Sohn des Kurfürsten Wilhelm I. und dessen zweiter Mätresse, Rosa Dorothea Ritter, versuchte mit einer Proklamation an die Soldaten und einer Ansprache an die Offiziere am 4. Oktober 1850 wenigstens das Militär bei der Stange zu halten. Auch dies misslang. Die Offiziere hatten ihren Eid nicht auf den Kurfürsten, sondern auf die Verfassung geleistet – eine einmalige Konstellation im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Um nicht eidbrüchig zu werden, reichten 241 der 277 Offiziere zwischen dem 9. und 12. Oktober 1850 Entlassungsgesuche ein. Dieser „Generalstreik“ von 87 Prozent des Offizierskorps machte das kurhessische Militär handlungsunfähig. Um die Konterrevolution zu retten, rief der Kurfürst die Bundesversammlung um Hilfe an.

Fast Krieg zwischen Preußen und Bayern/Österreich
Am 21. September billigte die Bundesversammlung den Antrag des Kurfürsten, jedoch ohne die Zustimmung Preußens. Nun konzentrierte Preußen eigene Truppen an der Grenze zu Kurhessen, da es seine Militärstraßen ins Rheinland bedroht sah. Dies führte zum Widerspruch von Kaiser Franz Joseph von Österreich. Am 12. Oktober 1850 verpflichtete sich König Maximilian II. von Bayern auf einer persönlichen Zusammenkunft in Bregenz mit Kaiser Franz Joseph und König Wilhelm I. von Württemberg, gegen eine eventuelle preußische Intervention einzutreten und seine Truppen an einer Bundesintervention zugunsten des hessischen Kurfürsten teilnehmen zu lassen. Die Bundesversammlung beschloss daraufhin am 16. Oktober, Besatzungstruppen nach Kurhessen zu entsenden, um den „ordnungsgemäßen Zustand“ wieder herbeizuführen. Am 28. Oktober erklärten sich preußische Regierungsvertreter bei einem Treffen mit dem russischen Zaren Nikolaus I. in Warschau in der sogenannten „Warschauer Übereinkunft“ bereit, die preußischen Truppen abzuziehen; in Kassel sollte ein Bundeskommissar eingesetzt werden, um dort wieder für Ordnung zu sorgen.

Dennoch rückten am 1. November 1850 bayerisch-österreichische Truppen in einer Gesamtstärke von 25.000 Mann zunächst in die kurhessische Provinz Hanau ein, um die Verfassungskrise im Sinne der Regierung zu beenden. Sie wurden von der hessischen Bevölkerung als „Strafbayern“ bezeichnet. Preußen antwortete am 2. November mit dem Einmarsch von zwei Divisionen in Nordhessen. Da dies ein Verstoß gegen die Warschauer Übereinkunft war, verlangte Österreich den sofortigen Abzug aller preußischen Truppen aus Kurhessen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. befahl am 5. November die Mobilmachung, und am 8. November kam es zu einem Scharmützel bei Bronnzell in der Nähe von Fulda, bei dem vier österreichische Soldaten verwundet und das Pferd eines preußischen Trompeters getötet wurden. Friedrich Wilhelm IV. scheute vor einem Krieg zurück, und die preußischen Truppen erhielten den Befehl, sich auf die Etappenstraßen zurückzuziehen.
Am 29. November kam es zur „Olmützer Punktation“, mit der Kurhessen der Bundesversammlung preisgegeben wurde. Die preußischen Truppen räumten das Land, und die bayerisch-österreichischen „Strafbayern“ besetzten die wichtigsten Städte und Orte Kurhessens, um jede Form von Opposition zu brechen. Die Hauptstadt Kassel wurde am 16. Dezember 1850 besetzt. Der österreichische Feldmarschalleutnant Graf Christian Seraphin Vincenz von Leiningen-Westerburg-Neuleiningen wurde als Bundeskommissar eingesetzt, um die Entscheidungen der Bundesversammlung durchzusetzen.

Die „Strafbayern“ wurden nicht in Kasernen untergebracht, sondern in Privathäusern einquartiert, und zwar vorrangig bei bekannten Liberalen und Demokraten und politisch fortschrittlichen Bürgern. Diese Quartiergeber waren auch zur unentgeltlichen Verpflegung der Besatzer verpflichtet. So bekam selbst der Kasseler Oberbürgermeister Heinrich Wilhelm Hartwig, als Exponent einer vom Kurfürsten unerwünschten politischen Richtung, in seine Dienstwohnung im Rathaus in der Oberen Karlsstraße eine Einquartierung von 28 bayerischen Soldaten.
Erst im Sommer 1851 wurden die Besatzungstruppen wieder aus Kurhessen abgezogen.

1852 wurde die Verfassung seitens des Kurfürsten einseitig geändert. Nach folgenden langen politischen Auseinandersetzungen wurde die Verfassung von 1830 im Jahr 1860 teilweise und 1862 vollständig wiederhergestellt. Die sich hier widerspiegelnden Konflikte zwischen Kurfürst und Bürgertum führten dazu, dass das Königreich Preußen nach dem Krieg von 1866 das Kurfürstentum problemlos annektieren konnte, weil das Bürgertum froh war, den ungeliebten Landesherrn loszuwerden und in eine wirtschaftlich viel leistungsfähigere, größere Einheit integriert zu sein.

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